Freitag, 1. August 2008

BONBONNIÈRE (26)

Wenn du schon auf den Mund fall’n musst, warum dann nicht auf meinen? – Schon viele Male hat man gesehen, wie Judith Holofernes diese Worte von der Festivalbühne in die Menge schickt; oder wie die Bandmitglieder von Wir sind Helden Pappschilder mit dem Songtext ins Bild halten, im Musikvideo, das zwischen den Klingeltonwerbespots im so genannten Musikfernsehen lief. So weit, so geläufig.

Die Bühne, auf der die vier am 29. März 2006 spielten, ist dreieinhalb Quadratmeter groß und gleichzeitig der Konzertsaal: Ein Aufzug. Der Song klingt fast wie immer; als Base- und Snaredrum muss die Fahrstuhlwand herhalten, was akustisch zwar den Live- aber nicht den Fahrstuhlcharakter hervorhebt. Warum spielt man Popsongs an einem solchen Ort, und warum ist der Effekt für den Zuschauer, der sich per Mini-Kamera zuschaltet, so enorm - enorm anders? Ist es die offene Konfrontation mit dem Wortspiel, das sich zwangsläufig daraus ergibt: Wir sind Helden machen Fahrstuhlmusik? Weil sie singen: Ich weiß nicht weiter... war ich noch nie, während der Aufzug immer wieder an den selben Stellen die Türen öffnet? Zweifellos ist es der Reiz des Unpassenden und Befremdlichen, der das Alltägliche, das Bekannte auf- und umwertet. Abgezielt wird dabei auf den oberflächlichen Effekt. Tiefergreifende Interpretationen, das Auf und Ab des Aufzugs als selbstreflektiven Akt des Künstlers in der Kommerzmaschinerie des Pop zu verstehen, gehen sicherlich zu weit.

Man kennt nicht nur Konzerte an ungewöhnlichen Orten. Es gibt Comedy im Waschsalon, Operninszenierungen in der Industriehalle und Schauspielaufführungen im Diskounter-Supermarkt. Studenten in Paris hören Vorlesung schonmal in Kinosälen, allerdings aus Hörsaalmangel. Bisweilen wird der Veranstaltung durch ihren ungewohnten Ort nicht nur ein neuer Rahmen, sondern eine ganz neue Bedeutung gegeben. In Bonn etwa, wo Im Frühjahr ebenfalls einige Hörsäle nach draußen verlegt wurden und Vorlesungen und Seminare auf dem Marktplatz, vor dem Metzger stattfanden – um gegen Stellenstreichungen in der Uni zu protestieren.

Auf ganz anderem Feld hat sich das Prinzip „ausgefallener Ort“ schon lange durchgesetzt. So versuchen gelangweilte Paare ihr Sexleben aufzumöbeln, indem sie auf der Flugzeugtoilette, auf der Achterbahn, im Beichtstuhl oder unterm Bett den Coitus vollziehen. Auch hier wird die Reibungsenergie unmittelbar genutzt, die entsteht, wenn man Gewohntes in eine neue Umgebung überführt. Das Neue entspringt, weil man das sichere Gewässer verlässt und das offene Meer sucht, umso mehr, wenn man – bildlich gesprochen – mit der Eisenbahn unterwegs ist.

Wie nah das Triviale dabei manchmal dran ist an der großen Kunst, zeigt folgendes Beispiel: Als ein junger Künstler in München ein Tattoo-Studio besuchte, ließ er sich nicht den Oberarm tätowieren oder den Po, sondern sein totes, ausgestopftes Meerschweinchen. Das pfeildurchschossene Herz – abgedroschene Ikone auf unzähligen Seefahrerkörpern – erschien plötzlich anregend anders, verstörend frisch auf dem toten Tierchen. Der junge Mann wurde in die Kunstakademie München aufgenommen. Altbekanntes auf fremdem Terrain – mit ...war ich noch nie fängt Kunst an. (mh)

DAS_PROJEKT

Was die von der SZ machen, können wir auch. Warum nicht selbst 'Streiflichter' schreiben? Die BONBONNIÈRE musste also her - der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten. Eine Dose voller Bon[n]bons und Bon[n]mots, jeden Freitag neu, verfasst von überambitionierten Autorinnen und Autoren aus Bonn und der Welt.

DIE_AUTOREN

Die jeweiligen Autorinnen und Autoren verbergen sich hinter dem Kürzel in den Klammern am Ende des Textes. Wer das ist steht hier:
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'BONBONNIÈRE_ Der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten' wird herausgegeben von marc holzenbecher, Bonn

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Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:17

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