Freitag, 10. April 2009

BONBONNIÈRE (36)

Das Prinzip Hoffnung. Was könnte es besser verkörpern als das Ei? Das Ei als Hoffnungsträger ist wesentlich älter als Karl-Theodor, Barack und alle Derivate dieser Welt. Sogar älter als die größte Hoffnung des Abendlandes, die wie das Ei derzeit wieder in Aller Munde ist. Als Symbol für Fruchtbarkeit und neues Leben trotzt es dem Trend. Eier haben Hochkonjunktur, zuverlässig, jedes Jahr, dem Kirchenkalender folgend. Auch hier bleiben Probleme indes nicht aus. Die Eier könnten knapp werden dieses Jahr, melden die Bauernverbände.

Doch das Prinzip Hoffnung hat viele treue Jünger um sich geschart. Die Chinesen handeln, wo andere hadern. Uhren und Turnschuhe kann jeder. Seidenraupen waren gestern. Heute ist: das künstliche Ei. Hergestellt aus Natriumalginat, Alaun, Natriumbenzoat, Glucono-delta-Lacton, Carboxymethylcellulose, Calciumcarbid, Lysin und Farbstoff für das „Dotter“. Eiweiß und Eigelb werden durch eine Ummantelung mit Calciumchlorid getrennt, die Schale besteht aus Gips und Paraffin. Den Preis unterbietet kein Huhn.

Es gibt angeblich Kurse, in denen man für 600 US-Dollar die Eierherstellung an einem Wochenende lernt. Inklusive Werkzeug und Formen. Leicht können wir uns vorstellen, dass mancher Fondsmanager oder Wirtschaftsminister so sein Handwerk erlernt hat. Man soll Kompaktkurse keinesfalls unterschätzen. Die Eier lassen sich als Spiegeleier braten und sind für Nichtexperten kaum von „gelegten Eiern“ - hoffnungslose Fälle sagen „echte Eier“ - zu unterscheiden. Na gut. Außer natürlich man isst sie. Geschmack: null bis seltsam. Aber es gibt Wichtigeres. Die Hoffnung obsiegt. Und kein Huhn wird ausgebeutet.
Der Oskar Lafontaine der Ernährungswissenschaftler, der chronisch kritische Udo Pollmer, bemerkte schon vor einigen Jahren, dass die künstlichen Eier bei uns doch eigentlich super ankommen müssten. Kein Cholesterin, kein Fett. Ein Traum. Sowieso verwende die Nahrungsmittelindustrie sie längst, als Eipulver. Da will wohl einer mit seinem Gequengel alle Hoffnung zunichte machen!

Die Erlösung für Hoffnungslobbyisten: Im Materiallager jedes Eiermachers finden sich große Mengen Calciumchlorid und Alginat. Beide Zutaten der Molekularküche. Auch die Technik, mit der Eigelb und Eiweiß umhüllt werden, nutzt die Küchenavantgarde. Die chinesischen Eierfälscher also auf den Spuren des spanischen Großmeisters Ferran Adrià. Das Kunstei als Kunst-Ei.

Man könnte nun meinen, der deutsche Eiermarkt wäre wie die USA: Zu seiner Rettung auf China angewiesen. Und auf Rettungseierpakete aus dem fernen Osten warten.
Doch was geschieht? Die chinesische Regierung geht hart gegen die so genannten „Eierfälscher“ vor. Während der Westen verstaatlicht, was noch zu retten ist, stoppen die sozialistischen Turbokapitalisten innovative Ideen zur Hoffnungsproduktion mit Polizeigewalt. Tatsächlich ist unser Kunst-Ei überdies wesentlich älter als Ferran Adrià und die Industrialisierung Chinas. Es wurde bereits um 1900 erfunden – in den USA. Nicht bei der Natur abgeschaut, sondern mal wieder im Westen. Wir hättens uns denken müssen, dass so etwas nur aus dem Heimatland der Hoffnung kommen kann. Zum verzweifeln, dass sich das geniale Konzept trotzdem bisher nicht weltweit durchgesetzt hat.

Unverzagt schulterzuckend wenden wir uns einer Frage zu, die zu lange vergeblich auf ihre Beantwortung hoffte. Was war zuerst: Huhn oder Ei? Nun ist die Sache klar. Kein Huhn. Aber viele Eier. Huhn und Ei sind wie Realwirtschaft und Finanzwirtschaft. Das Hoffnungsgeschäft ist wirklich nichts für Weicheier. Aus künstlichen Eiern schlüpfen übrigens zumeist keine Küken. Inwiefern hoffen da wohl hilft? (ds)

DAS_PROJEKT

Was die von der SZ machen, können wir auch. Warum nicht selbst 'Streiflichter' schreiben? Die BONBONNIÈRE musste also her - der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten. Eine Dose voller Bon[n]bons und Bon[n]mots, jeden Freitag neu, verfasst von überambitionierten Autorinnen und Autoren aus Bonn und der Welt.

DIE_AUTOREN

Die jeweiligen Autorinnen und Autoren verbergen sich hinter dem Kürzel in den Klammern am Ende des Textes. Wer das ist steht hier:
WER_SCHREIBT_WANN?

SUCHEN

 

IMPRESSUM

'BONBONNIÈRE_ Der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten' wird herausgegeben von marc holzenbecher, Bonn

Creative Commons License
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.

...

Online seit 5907 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:17

Profil
Abmelden
Weblog abonnieren