Freitag, 14. März 2008

BONBONNIÈRE (6)

Bus oder Fahrrad? Eine täglich aufs Neue gestellte Frage in vielen deutschen Haushalten. Fahrrad, ist doch klar! werden einige der elitären Egozentriker und freiheitsliebenden Ungeduldigen sagen. Aber Vorsicht ist geboten, denn Bus fahren birgt viele Vorteile. Es spart nicht nur dringend benötigte Energiereserven, sondern eröffnet zudem die Aussicht aus zweimal zwei Meter großen gläsernen Leinwänden auf deutsche Prachtstraßen – wenn die Fenster nicht mal wieder mit Zwanzig-Prozent-auf-alles-außer-Tiernahrung-Werbung verklebt sind. Der größte Vorzug ist jedoch ein ganz anderer: Dass man unter die Menschen kommt. Sie hautnah miterlebt. Sie riecht. Sie hört.

Gestern Morgen an der Haltestelle. Zwei ältere Damen warten mit mir auf den Bus. Beide sitzen auf dem neuesten Meyra Ideal Rollator mit gepolsterter Sitzfläche und sprechen angeregt miteinander. Ich frage mich, worüber sich Deutschland früh um halb eins unterhält. Etwa über das Wetter, die neusten Aldiangebote, junge Kleinkriminelle mit Migrationshintergrund? Diskret schalte ich den ipod aus und horche. Nein. Politik: „Die Drecksäcke da oben tun sisch doch alle nur die Taschen voll machen.“ Doch von wem ist die Rede? Und vor allem: wo ist „da oben“? Ich denke an die Götter auf dem Olymp, die Bergsteiger auf der Zugspitze… Gemeint aber ist natürlich die unmenschliche, mit dem Leben der hilflosen Bürger pokernde Spezies der Politiker.

Der Bus kommt und wir steigen ein. Es geht weiter. „Die sind doch alle gleisch“. Mir scheint, als würde der halbe Bus nickend zustimmen. Ich möchte mich einmischen: Und was ist mit Herrn …ähm Frau Metzger? Der ehrlichsten Politikerin, der mutigsten Frau Deutschlands? Die Bild-Zeitung muss es schließlich wissen. Stattdessen senke ich den Politikteil der Süddeutschen etwas herab. Becks Grinsen auf dem Foto (worüber kann der eigentlich noch lachen?) ist in dieser Situation vielleicht nicht gerade das Angebrachteste. Man muss ja nicht immer provozieren.

Ein Mann in einer orangefarbenen Jack Wolfskin Jacke schaltet sich ein. Er klopft der lauteren der beiden Damen verständnisvoll auf die Schulter. Mir geht das Bild zweier Krebskranker im Endstadium durch den Kopf, die sich im Hospiz gefunden haben, um den alleinig Schuldigen für ihre Misere auszumachen. Woher nur kommt diese Überzeugung, der arme kleine Bürger sei ein abgenutztes, machtloses Zahnrad in der allmächtigen Maschinerie des Bösen?

„Und es wird doch immer schlimmer“, höre ich noch beim Aussteigen. Ich freue mich schon auf die Rückfahrt. Und heute Abend inseriere ich mein Fahrrad bei ebay. (nm)

DAS_PROJEKT

Was die von der SZ machen, können wir auch. Warum nicht selbst 'Streiflichter' schreiben? Die BONBONNIÈRE musste also her - der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten. Eine Dose voller Bon[n]bons und Bon[n]mots, jeden Freitag neu, verfasst von überambitionierten Autorinnen und Autoren aus Bonn und der Welt.

DIE_AUTOREN

Die jeweiligen Autorinnen und Autoren verbergen sich hinter dem Kürzel in den Klammern am Ende des Textes. Wer das ist steht hier:
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IMPRESSUM

'BONBONNIÈRE_ Der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten' wird herausgegeben von marc holzenbecher, Bonn

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Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:17

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