Donnerstag, 21. Mai 2009

BONBONNIÈRE (37)

Die Bundesversammlung ist sonderbar, sogar für die Gelehrten, denn einmal nur alle fünf Jahr’ entdeckt man ihre Fährten. An diesem Samstag ist es mal wieder so weit, die 13. Bundesversammlung wird zur Wahl des Bundespräsidenten zusammentreten. Und nachher will’s wieder keiner gewesen sein.

Die Bundesversammelten (?) haben die Wahl zwischen denselben beiden Kandidaten wie vor fünf Jahren, „bereichert“ wird das Tableau durch den abgehalfterten Abort-Kommissar Peter Sodann für die Linkspartei und Dumpfklampfer Frank Rennicke für NPD und DVU. Anders als vor fünf Jahren gilt die Wahl als relativ offen: CDU/CSU und FDP verfügen nur über 604 Sitze; um die zur Wiederwahl Köhlers nötigen 613 zusammenzukriegen, sind sie auf die 10 Vertreter der Freien Wähler angewiesen. Ursprünglich hatte zu diesen auch CSU-Renegatin Gabriele Pauli gehört, die aber von SPD-Kandidatin Schwan so angetan war, dass sie sich lieber selbst absägte. Und führe uns nicht in Versuchung…. Wo kämen wir denn hin, wenn Freie Wähler frei wählen würden, noch dazu am 60. Jahrestag des Grundgesetzes? Nicht auszudenken, was passieren könnte.

Schon orakelt ihr Chef Aiwanger, seine Leute sollten verleumdet werden, indem einige Unionisten im ersten Wahlgang statt Köhler Schwan wählten. Nicht etwa, weil sie – Gehirnfurz – Schwan mit Schavan verwechseln und es als gute Christen spontan für einen Akt der Nächstenliebe halten könnten, die blasse Forschungsministerin (ach, Bildung macht die auch?) von ihrem Leiden zu erlösen (mit Glos hatte man ja auch ein Einsehen). Sondern um die Schuld an Köhlers Scheitern im 1. Wahlgang den Freien Wählern in die Schuhe zu schieben und so „zwei Wochen vor der Europawahl Taktik um drei Ecken“ zu spielen. Auch wenn man trotz mehrfachen Nachzählens nur auf zwei Ecken kommt, denkt man zunächst, Aiwanger könnte da erst Leute auf eine Idee gebracht haben, die sie selbst nie hätten ausbrüten können. Aber solche Hinterfotzigkeiten werden bei der CSU seit Zeiten von Franz-Josef Strauß auf jeder Nachwuchskaderschulung eingeübt. Bei so viel Training ist man Aiwanger da mühelos eine Ecke voraus: Statt Schwan Rennicke wählen – das ist Verleumdung. Das sind drei Ecken!

Doch auch die Union ist vor Spielchen über Bande nicht gefeit: Die Sozialdemokraten, von denen ja ohnehin einige mit Schwans Kandidatur nicht ganz happy sind, könnten ebenfalls Rennicke wählen. Kriegt Rennicke mehr als sechzehn Stimmen, reichen NPD, DVU, Fraktionslose und Freie Wähler nicht mehr als Erklärungspotenzial. Dann geht es – vier Ecken – an die Glaubwürdigkeits-Substanz der Union. Die würde dann besser daran tun, nicht für Rennicke zu stimmen, da die Verleumdung der Freien Wähler ja dann schon von der SPD mitbesorgt wird und sie sich somit nur selbst schaden würde, und stattdessen – fünfte Ecke – mit einem Votum für Sodann die SPD in große Verlegenheit zu bringen, die nur noch durch eine tatsächliche Wahl Schwans gesteigert werden könnte. Die die SPD letztlich kaum verhindern wird können, die Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken reichen hierzu aus. Ecke Nummer sechs.

Auch wenn Köhler als Favorit gilt, ist das Resultat der ersten beiden Wahlgänge vollkommen offen, es wird davon abhängen, wer in welchem Ausmaß welche Taktik fährt. Am Ende könnte Deutschland – ups! – mit einem Präsidenten Sodann oder Rennicke da stehen. Nur Köhler hat eigentlich keine Chance, weil man mit seiner Wahl niemanden reinreiten kann. Sollte das Ergebnis letztlich „vorhersehbar“ ausfallen und eine „Überraschung“ ausbleiben, dann, weil jemand (vielleicht die Linkspartei?) doch einen Weg gefunden hat. Und sich die ganzen taktischen Stimmen im Endeffekt aufheben. Die Medien werden dann nichts zu berichten haben, die Beteiligten hingegen etwas verdattert im Reichstag sitzen und die Münder nur aufgrund der Anwesenheit der Kameras hoffentlich schnell wieder zukriegen. Erst in einigen Jahrzehnten werden dann die Ersten ihr Schweigen brechen, und es wird eine großartige Aufgabe für Geschichts-Doktoranden werden, die wirklichen Vorgänge zu rekonstruieren.

So aber steht Köhler vor der nahezu sicheren Abwahl. Dabei sind 80 Prozent der Deutschen zufrieden mit seiner Arbeit. Das ist die Formulierung in den Umfragen. In Wirklichkeit haben 80 Prozent der Deutschen keine Ahnung von seiner Arbeit. Wie ja auch Köhler 2004 selbst keine Ahnung davon hatte, er dachte, es wäre okay, wenn man als Präsidentschaftskandidat schon mal seine Wunschkoalition bekannt gibt. Und dass man als Präsident die Auflösung des Bundestags hinreichend dramatisch unterfüttern muss. Heute sagt Köhler, er würde diese Rede heute nicht mehr so halten. Das ist in etwa so, als ob ein Schauspieler drei Akte lang hinter der Bühne wartet, dann, statt seinen großen Monolog zu halten, auf die Bühne kotzt, und zwei Monate später zugibt, dass sein Auftritt an jenem Abend eventuell suboptimal gelaufen ist. Aber 80 Prozent der Deutschen finden ihn einfach dufte, weil er so tapsig ist. Knut fanden die Deutschen ja auch einfach dufte. Also, Volkswahl – und ein Eisbär als nächster Präsident?

Man muss das Kind ja nicht gleich mit dem Bade ausschütten. Zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes sollte die Wahl des Bundespräsidenten gemäß des bewährten Wahlverfahrens des Grand Prix Eurovision de la chanson umstrukturiert werden: „Änd süs üs sö riesalt of ße Mecklenburg-Vorpommeranian vöht: Horst Köhler… twelve points, ’orst Kölère douze points.“ (vb)

DAS_PROJEKT

Was die von der SZ machen, können wir auch. Warum nicht selbst 'Streiflichter' schreiben? Die BONBONNIÈRE musste also her - der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten. Eine Dose voller Bon[n]bons und Bon[n]mots, jeden Freitag neu, verfasst von überambitionierten Autorinnen und Autoren aus Bonn und der Welt.

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Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:17

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