BONBONNIÈRE (4)

„WAS? Du hast von den Krawallen gar nichts mitbekommen?“ Ich habe die ungläubige Stimme meines Bruders noch im Ohr. „Aber du wohnst doch da!“ Ja, ich wohne in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Und ich lerne gerade Dänisch. Und ich bin Erasmus-Studentin. Damit verbinden sich drei Tatsachen zu einem unheilvollen Gebräu, das in Fällen wie diesem dafür sorgen kann, dass auch an mir mal etwas vorbeigeht. Selbst tagelang andauernde Jugendkrawalle im Migrantenviertel Nørrebro.

Erstens: Kopenhagen ist eine Millionenstadt. Das muss man dem Bonner an sich und all jenen, die Dänemark bisher nur vom Sommerurlaub am eher spärlich besiedelten Nordseestrand kennen, erst einmal erklären. Fährt man in København mit dem Rad bei skandinavischem Seewind vom In-Viertel Vesterbro in die Wohngegend Østerbro, kann das schon mal dauern. Anfühlen tut es sich in etwa so, als würde man am Frankfurter Flughafen mit 52 kg Gepäck von Abflughalle A zu Abflughalle D laufen. Aufgrund der beachtlichen Distanzen bekomme ich es also nicht zwangsläufig mit, wenn sich in Nørrebro Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei liefern.
Zweitens: Fließendes Dänisch wird einem als Deutsche ja nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Als Sprachschüler im Anfangsstadium dauert das intensive Studium einer Tageszeitung deshalb auch schon mal eine gefühlte Woche. Ob dieser Sprachbarriere konsumiere ich dänische Medien derzeit (noch!) eher rudimentär.
Drittens: Der Erasmus-Effekt! Es gibt da dieses naive Prä-Auslandssemester-Gerede: „Ich möchte mich gerne mit Ortsansässigen anfreunden.“ Liebe zukünftige Erasmus-Generationen: Es gibt kein einheimisches Empfangskomitee am Bahnhof, das mit folgenden Worten auf euch zustürmt: „Auf dich haben wir gewartet! Gib uns zwei Wochen und du bist sozial integriert!“ Das ist eine Mär, ein Trugschluss! Es gibt eine große Erasmusgemeinde. Ich kenne Südkoreanerinnen, Brasilianerinnen und – dazu stehe ich – sogar Holländer. Wer sich jedoch mit Dänen anfreunden möchte, bleibe in Deutschland. Das ist deren bevorzugtes Austauschland.
Dies alles führt dazu, dass auch für die Korrespondentin vor Ort die Geschehnisse oftmals schleierhaft bleiben.

Stattdessen: Eine treffsichere Analyse der amerikanischen Vorwahlen? Ein bissiger Kommentar zu Monsieur Sarkozy und la Première Dame Bruni? Eine pointierte Stellungnahme zu Stichworten wie rot-rot-grün, schwarz-grün und rot-gelb-grün?
Det er i orden! Selvølgelig! Værsgo! (An dieser Stelle danke ich Spiegel Online, sueddeutsche.de und WDR 2.)

Aber zurück ins Land der Pølser und Wikinger. Straßenschlachten, Jugendliche mit Migrationshintergrund, brennende Autos: Da sind die Mohammend-Karikaturen thematisch nicht mehr weit. Das hat wohl auch der Kopenhagener Politikwissenschaftler Noel Parker gemeint, als er auf der Internetseite des renommierten Wiener Standard die Unruhen messerscharf analysierte: „Das ist alles sehr spekulativ. […]Es könnte auch mit dem mittlerweile abgerissenen Jugendhaus zu tun haben - alles ist möglich.“. Andererseits: „Es gibt so etwas wie eine gemäßigte Riot-Tradition in Dänemark.“ Aha.

Den versuchten Mordanschlag auf den Karikaturisten Kurt Westergaard habe ich übrigens wahrgenommen. Spiegel Online berichtete. Selbstverständlich habe ich mir als gesellschaftspolitisch Interessierte umgehend die tagesaktuelle Ausgabe der Politiken besorgt. Den Artikel lese ich dann in vier Monaten. Wenn ich fließend Dänisch spreche. (chö)

DAS_PROJEKT

Was die von der SZ machen, können wir auch. Warum nicht selbst 'Streiflichter' schreiben? Die BONBONNIÈRE musste also her - der Spielplatz für Gelegenheitsweltliteraten. Eine Dose voller Bon[n]bons und Bon[n]mots, jeden Freitag neu, verfasst von überambitionierten Autorinnen und Autoren aus Bonn und der Welt.

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Zuletzt aktualisiert: 21. Mai, 18:17

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